Kitas, Schulen, frühkindliche Bildung – ein Interview mit Andreas Gubernatis, Einrichtungsleiter der AWO KiTa in Buxtehude

Kitas, Schulen, frühkindliche Bildung.

Diese Themen sind vor allem aufgrund der Probleme, die die Corona-Krise zuletzt verdeutlichte und verschlimmerte, medial sehr präsent. Aus diesem Anlass hat sich unser stellvertretender Vorsitzender Gerrit Steffens, mit dem Erzieher Andreas Gubernatis zusammengesetzt, um über das Thema frühkindliche Bildung und die aktuellen Herausforderungen zu sprechen.

Seit 2013 ist Andreas in der AWO Kita Schäferkamp in Buxtehude, zunächst als Erzieher, inzwischen auch als Einrichtungsleiter, tätig und engagiert sich seit langem mit Herzblut für die Belange seines Berufsfeldes. Deshalb ist er seit 2020 auch Mitglied in der SPD. Er liebt seinen Beruf, sieht sich jedoch in seinem Berufsalltag jeden Tag mit den aktuellen Herausforderungen im Bereich frühkindlicher Bildung konfrontiert. Deshalb haben wir ihn gefragt, wie es ihm und seinen Kolleg:innen im Moment geht, wo er Handlungsbedarf sieht und wie er die aktuellen Probleme angehen würde.

 

Gerrit: Wie geht es euch momentan in den Einrichtungen?

Andreas: In unserer Einrichtung geht es uns den Umständen entsprechend ganz gut. Wir nehmen die Kinder anders bzw. intensiver wahr, dementsprechend ist die Arbeit zurzeit individueller als im Normalbetrieb. Unter den Kindern entstehen neue oder andere Kontakte, auch sie lernen sich noch einmal anders kennen. Wir wissen aber auch, dass viele Kinder nicht bei uns sein können und das macht uns sehr traurig. In den Gruppen wird innerhalb von „Kinderrunden“ regelmäßig über die derzeitige Situation gesprochen, denn auch Kinder haben ihre Meinung über diese teils verrückt erscheinende Zeit! Insgesamt betrachtet, finde ich, dass der Bereich frühkindliche Bildung derzeit irgendwie präsent ist aber auch irgendwie nicht. Auf der einen Seite wird geschrieben, wie wichtig u.a. Kitas sind, auf der anderen Seite entsteht das Gefühl, dass dies nicht mit Leben gefüllt wird. In Kitas wird analog zu Schulen verfahren. Ist das möglich? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass u.a. eine rasche Impfaufklärung und -strategie für Personal in Kindertagesstätten schnell Ruhe und vor allem die Kinder wieder zurückbringen kann. Sonst bleibt es dabei: Es stehen momentan die Interessen der Fachkräfte gegenüber den Interessen der Kinder und Familien. Das sorgt für großen Zündstoff und kann eine nachhaltige Zusammenarbeit mit Personensorgeberechtigten zum Wohle der Kinder schwächen.

Gerrit: Sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie denn die größten Probleme im Bereich frühkindliche Bildung oder gab es diese auch schon vorher, vielleicht auch an anderer Stelle?

Andreas: Ich glaube, die Pandemie ist nicht das eigentliche Problem! Sie zeigt uns aber die Verletzlichkeit unseres Systems auf. In der lokalen Presse werden Wahlkampfrufe laut wie „Wir sind für einen besseren Fachkraft-Kind-Schlüssel“ oder „Wir wollen eine duale Ausbildung“. Das hört sich im ersten Augenblick schön und gut an aber was steckt dahinter? Leider steckt hinter dem reinen Ausruf nichts. Wie füllen wir diese Aussagen mit Inhalt? Das ist für mich eine Aufgabe, der sich die Politik stellen muss. In der Kommune, im Land und im Bund. Es geht darum, wie wir eine qualitative Verbesserung schaffen. Frühkindliche Bildung ist für mich „Chef:innensache“!

Gerrit: Warum wird der Bereich deiner Meinung nach teilweise so stiefmütterlich behandelt?

Andreas: Vielleicht durch fehlende Repräsentation innerhalb der Politik durch Fachkräfte!? Und wohl auch durch den geschichtlichen Background des Berufszweigs. Es ist auch heute noch eher ein Frauenberuf. Vereinbarkeit von Familie und Beruf lässt sich durch Teilzeitarbeit gut umsetzen. Viele Frauen haben oder hatten dann nicht die Zeit, sich um bessere Bedingungen einzusetzen. Sprüche wie „Frauenjob ohne Lobby“ und „Ihr sitzt doch den ganzen Tag nur rum, trinkt Kaffee und spielt mit Kindern“ hört man noch immer… Ein Wahrnehmungsbild fernab jeder Realität, doch leider kriegt man sowas noch immer viel zu oft zu hören. Auch in sachlichen Debatten. Hier sehe ich noch einen großen gesellschaftlichen Aufklärungsbedarf

Gerrit: In welchen Bereichen siehst du denn aktuell den größten Handlungsbedarf?

Andreas: Das ist eine schwere Frage. Ich sehe die Verzahnung der einzelnen Problembereiche als große Herausforderung. Um beispielsweise Entlastung für die pädagogischen Mitarbeiter:innen zu erreichen, muss ein angemessenerer „Fachkraft-Kind-Schlüssel“ geschaffen werden. Dafür muss aber wiederum die Ausbildung attraktiver gestaltet werden. Das eine Problem kann schlecht gelöst werden, ohne zeitgleich die anderen anzugehen. Ein ganzheitlicher Lösungsprozess wird benötigt.

Gerrit: Wie genau meinst du das?

Andreas: Nehmen wir den „Fachkraft-Kind-Schlüssel“. Der ist zurzeit einfach überhaupt nicht realistisch[1]! In vielen Kitas können Stellen nicht besetzt werden, weil die Fachkräfte fehlen. Das bedeutet auch, dass die anwesenden Fachkräfte für andere mit einspringen müssen, vielleicht auch ihre Arbeitszeiten erhöhen müssen. Ihre Belastung steigt und sie werden häufiger krank oder steigen aus dem Beruf aus. Bei all den Erfahrungen, dass viele frisch ausgelernte Fachkräfte weiter studieren oder in einen anderen pädagogischen Arbeitsbereich wechseln, haben wir ein großes Problem an unserer Basis – in unseren Elementargruppen! Denn außerdem werden Erzieher:innen bald auch für die Erfüllung des gesetzlichen Anspruchs auf Ganztagsbetreuung in Schulen benötigt. Auch das sinnige Gesetz zur Drittkraft in Krippen steht weiterhin in den Startlöchern!

Gerrit: Wie könnte man dieser grundlegenden Problematik begegnen?

Andreas: Viele Fachverbände, auch die Kultusminister sprechen sich für eine „duale Ausbildung“, bzw. „praxisintegrierte Ausbildung“ aus. Wie das nachhaltig funktionieren soll, ist aber nicht geklärt. Hier müssen dringend gute Konzepte her.

Gerrit: Wie könnte es aber nachhaltig funktionieren?

Andreas: Die Kultusminister-Konferenz ist da ja auf einem entsprechenden Weg. Ich wünsche mir einfach bundeseinheitliche Formen und Standards rund um eine duale Ausbildung.

Diese sollten umfassen:

  • Die Ausbildung muss den Qualitätsrichtlinien (DQR 6; näheres hierzu: www.dqr.de) entsprechen
  • Ausbildungsverträge mit den Praxisstellen (aktuell gibt es de facto keine vertraglich geregelten Ausbildungsverhältnisse)
  • Tarifliche Ausbildungsvergütung
  • Qualitative Zusammenarbeit Fachschule und Kita (Ein Beispiel: Fachkräfte können Auszubildende derzeit faktisch nur in der eigenen Freizeit unterstützen und betreuen, da die Vor- und Nachbereitungszeit des pädagogischen Alltags nicht ausreicht)
  • Umschüler:innen (z.B. berufserfahrene Sozialassistent:innen oder Kinderpfleger:innen) eine Verkürzung der Ausbildung ermöglichen
  • Qualitativ unterstützte Quereinstiege ermöglichen, z.B. wie bei der Qualifizierungsmaßnahme „Profis für die Praxis“ im Bundesland Brandenburg
  • Anerkennung vergleichbarer Ausbildungen aus dem Ausland und Integration in das Ausbildungssystem (Entbürokratisierung).

Diesen inhaltlichen Konsens. Diesen Weg hin zu der Fragestellung: Wie ermöglichen wir etwas? Diesen Mut wünsche ich mir.

Gerrit: Wo siehst du diesbezüglich aktuell politischen Spielraum auf Landesebene?

Andreas: Ich denke, dass das niedersächsische Kindertagesstätten Gesetz (nKitaG) mehr Forderungen für den qualitativen Ausbau der Rahmenbedingung vor Ort bieten sollte. Es müsste die Vorgaben für qualitative Mindeststandards soweit erhöhen, dass sie einen Anreiz für die tatsächliche qualitativ hochwertige Entwicklung vor Ort schaffen. Aktuell ergibt sich folgendes Bild: Der theoretischen Möglichkeit über die Mindeststandards hinaus qualitative Ressourcen zu schaffen, steht das praktische Problem der chronisch klammen kommunalen Kassen entgegen. Am Ende ist es auch noch so, dass uns Personal fehlt, was wiederum durch Zeitaufwand der vorhandenen Fachkräfte kompensiert werden muss. Damit sind wir wieder bei der problematisch komplexen Verzahnung.

Gerrit: Was können die Kommunen dafür tun, um attraktiver für Fachkräfte zu sein?

Andreas: Ich bin der festen Überzeugung, dass jede einzelne niedersächsische Kommune ihren Teil zu einer höheren Qualität und Attraktivität beitragen kann. Dafür muss sie sich trägerübergreifend die Frage stellen, was es für Fachkräfte attraktiv macht, in der eigenen Kommune zu arbeiten. Ansatzpunkte sind meiner Meinung nach:

  • Vor- und Nachbereitung des pädagogischen Alltags über den Mindeststandard
  • Vorbereitungszeiten für „Springstellen“
  • Zeitressourcen für Ausbildungsanleitung
  • Attraktives Fortbildungsbudget
  • Höhere Zeitressourcen für Kräfte im Bereich Haus- und Gebäudewirtschaft um die pädagogischen Kräfte zu entlasten
  • Höhere Freistellungsstunden für Kita-Leiter:innen und ggf. Stunden für eine Stellvertretung
  • Mehr Zeit für Fachberater:innen, die die Qualität der Fachlichkeit in Kindertagesstätten sicherstellen und entwickeln
  • Ausbildungsvergütung ohne Bindung an einen Standort
  • Trägerübergreifender Fachaustausch und fachliche Zusammenarbeit

Wenn wir uns dieser komplexen Herausforderung stellen, bin ich mir sicher, dass wir eine positive Perspektive in der Gesamtheit schaffen können.

Gerrit: Was möchtest du der Politik und den Fachkräften mit auf den Weg geben?

Andreas: Erstmal ist es mir wichtig zu sagen, dass ich meinen Job liebe und ich mir nicht vorstellen kann, in einem anderen Berufsfeld zu arbeiten. Warum mir das wichtig ist? Ich habe das Gefühl, dass hin und wieder das Engagement für diesen Beruf negativ ausgelegt wird nach dem Motto: Du redest ja alles schlecht. Nein das mache ich nicht! Gerade weil ich meinen Job liebe, finde ich es umso wichtiger auch ehrlich für ihn einzustehen. Ich weiß gern woran ich bin. Außerdem kann ich aus meiner Erfahrung behaupten: Es ist auch nicht alles schlecht!

An uns Fachkräfte gerichtet würde ich mir wünschen, dass wir den Mut aufbringen, den Kontakt zur (Kommunal-)Politik und den demokratischen Parteien vor Ort oder den Gewerkschaften zu suchen, um uns für die frühkindliche Bildung einzusetzen und um über die Probleme und Chancen vor Ort direkt zu sprechen. Wir wollen doch etwas, also können wir nicht erwarten, dass man auf uns zukommt. Darum wünsche ich mir diesen Mut zur direkten Kontaktaufnahme. Ich bereue diesen Schritt jedenfalls nicht!

 

 

[1] Der Schlüssel variiert je nach Bundesland und Gruppengröße, in Niedersachsen liegt er momentan bei 1:12,5 für Elementargruppen.